Carillonkonzert mit Elektronik
im Rahmen des Beiprogramms
"USArts" zur Ausstellung
"Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert"
20. Juni 1993 um 14 Uhr
Jeffrey Bossin, Carillonneur, Berlin
Programm
Musik von John Cage und Erik Satie
Music for Carillon no. 1 (1952) John Cage
Gnossienne Nr. 1* Erik Satie
Music for Carillon no. 2 (1954) John Cage
Aus "Sports & Divertissements"
La Balançoire* Erik Satie
Music for Carillon no. 3 (1954) John Cage
Premiere Gymnopedie* Erik Satie
Music for Carillon no. 4** (1961) John Cage
Aus "Sonneries de la Rose + Croix"
Air de l'Ordre* Erik Satie
Music
for Carillon no. 5 (1967)
John Cage
*Bearbeitet für Carillon von Jeffrey Bossin
**Tontechnik, Klangregie und Aufbau: Folkmar Hein,
Elektronisches Studio der Technischen Universität Berlin
Veranstaltet von CarillonConcertsBerlin in Zusammenarbeit mit der Podewil GmbH und
dem
elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin
und mit freundlicher Unterstützung des Haus der Kulturen der
Welt
Dank der Mitwirkung des Elektronischen Studios der Technischen Universität Berlin konnte erstmals in Berlin alle fünf von John Cage komponierte Stücke mit dem Titel Music for Carillon aufgeführt werden. Allerdings schrieb Cage die ersten vier nicht für ein Carillon mit Stockspieltisch sondern für ein Glockenspiel mit elektrischer Klaviertastatur. In den USA werden solche Instrumente mangels einer besseren Bezeichnung auch Carillons genannt, und Cage widmete sein zweites und drittes Stück nicht einem Carillonneur sondern dem Pianisten David Tudor. Solche Glockenspiele haben oft sogar statt Glocken nur kleine elektronisch verstärkte Klangstäbe, und Cage konzipierte sein viertes Stück ausdrücklich für ein solches electronic instrument. Nur der für ein niederländisches Carillon typische Ambitus von vier Oktaven ohne die ersten beiden Halbtöne cis und dis und die Formulierung for each of 47 bells deuten darauf hin, das Cage sein fünftes Stück für ein echtes Carillon mit Stockspieltisch komponierte. Dennoch sind auch die ersten vier auf einem richtigen Carillon zu spielen.
Was
bleibt einer Aufführung der Music for Carillon no. 4 an
Substanz übrig? Die Natur? Trotz der Verwendung eines
Sternenatlases als kompositorischer Vorlage ist von einer
Verbindung zur Natur nichts zu spüren. Denn im Gegensatz zu
Karlheinz Stockhausens Tierkreis, der die überlieferten
Eigenschaften der zwölf Tierkreiszeichen in Form von
Charakterstücken auf musikalisch faßbarer Weise darstellt, gibt
es nichts in Cages Stück, was eine hörbare Brücke zwischen den
Noten und deren zugrundeliegenden Sternbildern schlägt.
Stattdessen rückt die von Cage intendierte freie Entfaltung des
reinen Klangs ins Zentrum der Aufführung. Der ungewöhnliche
Klang des Carillons in Berlin-Tiergarten mit seinen schweren
Glocken übt eine große Faszination auf die Zuhörer aus und wird
durch die Rückkoppelungseffekte von Cages Stück noch verstärkt.
Dazu kommt die individuelle Interpretation, die jeder Zuhörer
wegen seiner eigenen, nicht abzulegenden musikalischen Bildung
und Erfahrungen auf diese Musik ohne jeglichen herkömmlichen
musikalischen Sinn projiziert, wie man in der abstrakten Form
einer Wolke am Himmel ein Phantasiebild mit konkreter Gestalt
sieht. Schließlich ist die "Ereignishaftigkeit" der Aufführung,
ihre Wirkung als ein verrücktes Geschehnis, ein wichtiger Teil
von Cages Music for Carillon no. 4. Diese
"Ereignishaftigkeit" entspringt dem Geist der Happenings und der
Fluxus-Bewegung, jener von Dadaismus abgeleitete Kult des
Absurden als Verneinung des Kanons der europäischen
Kunsttraditionen wie überhaupt alles Konventionelle, der seinen
Höhepunkt während der Sechziger Jahre erreichte und woran Cage
zur gleichen Zeit teilnahm als er die Music for Carillon no.
4 schrieb. Just wegen ihrer ikonoklastischen, durch
herkömmliche Kategorien nicht zu erfassenden Substanz erzeugt
die Music for Carillon no. 4 das Gefühl der
musikalischen Willkür und der von allen Traditionen befreiten
Sinnlosigkeit. Cages Ruf als Komponist bizarrer Werke umhüllt
die Inszenierung dieses absichtlich unverständlichen Ereignisses
mit der Aura eines verrückten Happenings. So begeistern sich die
Menschen für die Aufführung einer Komposition von Cage wie für
den Vortrag eines Lautgedichts von dem Dadaisten Kurt
Schwitters.
Cages Music
for Carillon no. 4 ist eine Herausforderung für den
Carillonneur. Der völlig willkürliche Satz war nicht auswendig
zu lernen, und ich mußte nach Noten spielen. Das Tempo ist aber
sehr rasch: jedes der 37 cm langen Systeme dauert nur fünfzehn
Sekunden, enthält aber manchmal Clusters mit bis zu 32 Noten pro
Sekunde. Als Carillonneur mußte ich in diesem Zeitraum erheblich
größere Abstände überwinden als der von Cage vorgesehene
Pianist, denn um eine Oktave auf einem Stockspieltisch zu
spielen, muß man die Faust mindestens 35 cm seitlich bewegen.
Währenddessen ist immer wieder ein Blick auf die Stoppuhr zu
werfen, um die Carillonmusik mit den vom Tonband ablaufenden
Schlaggeräuschen zu koordinieren. Bei der Aufführung ließ ich
mich von den vielen, beim vorgeschriebenen Tempo unlesbaren und
unspielbaren Stellen der Music for Carillon no. 4 zum
spontanen Improvisieren von Passagen anregen, dessen
Klang und Gestus den ohnehin nach dem Zufallsprinzip
aufgezeichneten Noten ähnelten. Dadurch hatte die
Aufführung eine für die Happenings zweite
charakteristische Eigenschaft, nämlich die
der spontanen Einmalig- und Unwiederholbarkeit.
Allerdings ist bei wiederholten Aufführungen diese
tatsächliche Einmaligkeit nicht zu hören, denn sie
entsteht nicht durch eine Improvisation über ein
Thema oder das Phantasieren von prägnanten Einfällen
wie Motiven, Melodien, Rhythmen und formbildenden
Elementen, die sich dem Zuhörer einprägen und ihm
ermöglichen, die Einmaligkeit verschiedener
Aufführungen bewußt zu werden. Stattdessen
nivilliert die unendliche Variabilität der
improvisierten Klanggesten die Unterschiede zwischen
den Varianten und hebt dadurch deren erkennbare
Identität und Wirkung als unterschiedliche Versionen
auf. Bei wiederholten Aufführungen des Werkes wird
das Gefühl der Einmaligkeit nicht
stärker sondern schwindet, die Varianten rufen
paradoxerweise den Eindruck der Gleichheit hervor,
wie die Unterschiede zwischen immer feineren
Abstufungen einer unendlich großen Farbskala, die
allmählich nicht mehr zu erkennen sind.