Die Zar-Kolokol-Glocke

Das Rätsel eines mißglückten Glockengiganten

 

Professor Dr. Rüdiger Pfeiffer-Rupp und Konstantin Mischurowski gewidmet

 

Von Jeffrey Bossin

 

Man schreibt das Jahr 1737. Am 29. Mai[1], dem Tag der Dreifaltigkeit, zündete eine fromme Soldatenwitwe, die für den reichen Moskauer Bürger Alexander Miloslawski als Köchin arbeitete, eine Kerze anläßlich des hohen Feiertags an, stellte sie vor dem Ikon in ihrem Kleiderschrank und ging in die Küche, um etwas für sich selber zu kochen. Die Kerze fiel herunter und setzte den Kleiderschrank in Brand. Die anderen Diener und Bewohner des Hauses nahmen gerade an einem Gottesdienst teil aber als sie die zischenden Flammen und schwarzen Rauchschwaden bemerkten, eilten sie alle zu dem brennenden Haus. Allein es war zu spät, das Feuer hatte bereits die Hälfte des Hofes verschlungen. Bei der damals herrschenden Trockenheit und angetrieben von einem starken Wind breitete sich ein verheerendes und schreckliches Feuer mit Windeseile in Moskau aus. Bevor es gelöscht werden konnte, brannte ein Viertel der Stadt nieder und man spricht noch heute davon wie eine einzige billige Kerze Moskau zerstörte. Auch viele Gebäude des Kremls wurden Opfer der Flammen: die Konyuschenni-, Poteschni-, Facetten- und Terem-Paläste, das Büro, der Speisesaal, die Botschafterkammern, das Rote Tor, die Dreifaltigkeits- und Erlösertürme, die Rüstkammer, das Arsenal und das Archiv. Das Feuer vernichtete die oberen und unteren Dammgärten und die Gewächshäuser, die Dächer der Mariä-Entschlafens-, Erzengel-Michael- und Mariä-Verkündigungs-Kathedralen gerieten in Brand, das Chudow oder Wunder-Kloster, das Nachlaßbüro, die Regierungsanordnung und der Bau der Kollegien gingen in Flammen auf und das Salzamt, den Zählerturm des Kriegskommissariats und das Uniformbüro wurden zerstört. In mitten der Kremlanlage stand der legendäre Glockengigant, die Zar-Kolokol-Glocke, die gerade achtzehn Monate zuvor gegossen worden war. Lange Zeit wurde immer wieder erzählt, daß auch sie ein Opfer des Infernos wurde.

     Die Zar-Kolokol-Glocke ist mit einem unteren Durchmesser von 6,60 Meter, einer Höhe von 6,14 Meter (einschließlich der Krone)[2]  und einem Gewicht von 202 Tonnen die bis heute größte und schwerste Glocke, die jemals geschaffen wurde. Sie steht auf einem Podest neben dem Iwan-Weliki-Glockenturm im Moskauer Kreml, wo der Franzose Auguste Ricard de Montferrand sie am 23. Juli 1834 mit Hilfe von 480 Soldaten, 20 Offizieren und 106 Zimmermännern und anderen Handwerkern hinstellte, 99 Jahre nachdem sie gegossen wurde. Der erste Versuch, diese Mammut-Glocke zu gießen wurde im Jahre 1734 von Iwan Motorin unternommen und er scheiterte. Erst im darauffolgenden Jahr gelang seinem Sohn Mikhail der Guß. In seinem 1985 erschienenen Buch The Bells of Russia beschreibt Edward Williams die Zar-Kolokol-Glocke als ein Werk von vollendeter Schönheit[3]. Allerdings hat die Glocke mehrere große auffällige Makel: die Figuren der Kaiserin Anna Iwanowa und des Zaren Alexei Mikhailowitsch sind unvollständig, die Inschriften in den beiden großen Kartuschen auf der Glocke wurden schlecht und meistens nicht zu Ende ziseliert, die Schärfe hat ringsherum mehrere zum Teil große Risse und ein elfeinhalb Tonnen schweres Stück ist aus der Glocke herausgebrochen. 1736 wurden zwei verschiedene Pläne vorgelegt, mit deren Hilfe die Glocke aus der Gußgrube gehoben werden sollte, jedoch wurden sie nicht ausgeführt. Als das Feuer Ende Mai 1737 im Kreml wütete, soll nach den bisher allgemein akzeptierten und in der Fachliteratur immer wieder zitierten Berichten darüber ein über der Gußgrube errichteter hölzerner Schuppen in Flammen aufgegangen und brennende Balken sollen dabei auf die Glocke herabgestürzt sein. Man soll das Feuer gelöscht haben, indem man eine große Menge Wasser schnell auf die Glocke goß, und die dadurch verursachte plötzliche und ungleichmäßige Abkühlung der Glocke soll für die Risse und die Entstehung des großen Fragments verantwortlich sein[4]. Auch der Moskauer Campanologe Andrei Gluschezki behauptet in seinen 2010 und 2019 veröffentlichten Büchern über die russischen Glockengießer bzw. die Moskauer Glockengießer des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, daß der Brand und das Löschen des Feuers mit Wasser die Risse verursachten[5]. Auch ich hatte diese Erklärung akzeptiert ohne darüber nachzudenken. Immerhin wird brennendes Holz bis zu 1.300 Grad heiß, mehr als heiß genug, um Glockenbronze zu schmelzen. Ich hatte auch erlebt, wie ein heißes Stück Glas zerspringt, wenn es mit kaltem Wasser übergossen wird. Und der große Brand im Kreml ist eine Tatsache. Es gibt jedoch andere abweichende Erklärungen für die Beschädigung der Glocke, z. B. daß die Risse durch Gußfehler verursacht wurden[6]. Nach A. Wiktorow berichtete S. A. Saltykow, daß Graf Burkhard Christoph von Münnich in seinen Memoiren notierte, wie ein Baumstamm auf die Glocke fiel und sie beschädigte[7]. Nach weiteren Darstellungen stürzte die Glocke ab und zerbrach als Mikhail Motorin versuchte, sie aus der Gußgrube zu heben[8]. Oder die Glocke hing zur Zeit des Kremlbrandes in einer 62.000 Rubel teueren Bühne aus hölzernen Laufstegen in der Grube[9] oder in einem hölzernen Gerüst über der Gußgrube, diese fingen Feuer und die Glocke stürzte in die Tiefe und zerbrach[10]. Williams berichtet, daß die Glocke in der Gußgrube auf einem Eisengitter stand, und daß Mikhail Motorin und seine Arbeiter sie mit Hilfe eines Ladebaums etwas anhoben und dadurch auch die Schärfe und deren Unterseite sowie die Innenseite der Glocke reinigen konnten, wobei sie den Kern der Gußform entfernten. Danach wurde die Glocke wieder auf das Eisengitter heruntergelassen. Nach dem italienischen Glockengießer Emanuele Allanconi hatte Motorin die Gußform auf einem Eisengitter gebaut, damit das Gewicht der Glocke sie nicht in den Boden hineindrückt.

     Jedoch, nachdem Robert Bremner sich die Zar-Kolokol-Glocke im Herbst 1836 angeschaut hatte, war er der Meinung, daß „sie höchstwahrscheinlich nie aufgehangen wurde...es schien, als wenn die Priester sie niemals aus der Gußgrube entfernt hätten[11].“ Williams behauptet jedoch, daß die Zar-Kolokol-Glocke niemals in einem Holzbau über der Gußgrube hing oder daraus fiel[12]. Einige Campanologen sind der Meinung, daß die Glocke nicht herabfiel, weil sie mit dem darunterliegenden Eisengitter fest verbunden war, als sie 1836 aus der Gußgrube gehoben wurde[13]. Schließlich vertritt Inna Kostina in ihrem 2015 erschienenen Buch über die Glocken des 14. bis 19. Jahrhunderts im Moskauer Kreml die Meinung, daß allein die durch das Feuer erzeugte Hitze die Glocke beschädigte[14].

     Im August 2016 lernte ich den Campanologen und Glöckner Konstantin Mischurowski in Rostow Weliki kennen, wo wir beide Mitglieder der Kommission sind, die das 63 Tonnen schwere Geläut der Stadt aus dem 17. Jahrhundert betreut. Mischurowski arbeitet als Glöckner für den Moskauer Kreml und führt Touristen durch die Anlage, wo die Zar-Kolokol-Glocke täglich von zahlreichen Kremlbesuchern bewundert und photographiert wird. Im Gegensatz zu Williams weiß Mischurowski aus erster Hand wie die Glocke aussieht, und wie Kostina findet er die von Olowjanischnikow und Williams tradierte Geschichte dafür, wie die Risse in der Glocke entstanden, nicht plausibel. Und er geht noch weiter: im Gegensatz zu Kostina ist er der Meinung, daß die Glocke von dem großen Brand im Kreml gar nicht beschädigt wurde. Als Mischurowski mir die Glocke zeigte, wies er darauf hin, daß sie keine der typischen Merkmale einer Glocke hatte, die einem Feuer ausgesetzt worden war[15], z. B. war die Glockenzier auf der Schulter im perfekten Zustand. Ich fing an über die Geschichte des Feuers nachzudenken. Als der Großbrand 1737 im Kreml wütete, war niemand darauf vorbereitet, ihn zu bekämpfen. Kostina vermutet sogar, daß alle nach Haus geeilt wären, um ihre Besitztümer und Familien in Sicherheit zu bringen[16]. Überall herrschte Chaos, Flammen und Rauch schränkten die Sichtweite ein und hinderten die Menschen daran, normal zu atmen. Es gab ein heilloses Durcheinander. Zwar kämpften zahlreiche Soldaten, Polizisten und die Bewohner der Stadt gemeinsam daran, die Feuersbrunst zu löschen, aber sie waren hauptsächlich damit beschäftigt, das Feuer in der Stadt zu bekämpfen. Warum sollten unter diesen Umständen eine Anzahl von ihnen versuchen, die Zar-Kolokol-Glocke zu retten und wie? Dr. Bund war der Meinung, daß wenn der Oberbefehlshaber des Kremls seine Männer dazu angewiesen hätte, sie ihm ohne Widerrede gehorcht hätten. Und es wurden Vorsichtsmaßnahmen zur Feuerbekämpfung in der Stadt getroffen, die schon vor 88 Jahren in Kraft getroffen waren. Am 30. April 1649 hatte Zar Alexei Michailowitsch eine Verordnung unterzeichnet, die eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Stadt Moskau von Feuerwehrpatrouillen einführte. Diese wurden angehalten, nicht nur aktiv am Löschen von Bränden mitzuwirken sondern auch die Einhaltung der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Brandschutzvorschriften zu überwachen. Um das Risiko einer Feuersbrunst zu reduzieren versuchte Zar Peter I. den Bau von Holzhäusern in Moskau einzuschränken. Wasseraufnahmebrunnen und später Pumpsäulen, die mit unterirdischen Hydranten verbunden waren (kолонка пожарная), wurden auch in den Straßen installiert[17]. Aber die Zar-Kolokol-Glocke soll auf dem Boden einer zehn Meter tiefen Grube gelegen haben, wo niemand sie sehen konnte, der nicht hineinschaute, wieso sollte man ein Feuer dort löschen anstatt sich um die brennenden Gebäude des Kremls zu kümmern und sich bemühen, deren wichtigen Dokumente und kostbaren Einrichtungsgegenstände in Sicherheit zu bringen?

     Und wenn man doch Wasser auf die Glocke goß, wo nahm man es her? Welche Möglichkeit gab es, damals ein Feuer im Kreml zu bekämpfen? Die beiden Versuche, die Zar-Kolokol-Glocke zu gießen, deuten auf eine Antwort hin. Der erste im Jahre 1734 mißlang als am 29. November Iwan und Mikhail Motorin notgedrungen flüßige Glockenbronze aus zwei der für den Guß vorgesehenen vier Schmelzöfen in andere Öfen umleiten mußten, wo sie für einen späteren Gußversuch aufbewahrt werden sollte. Dabei spritzte das heiße Metall auf die hölzernen Sparren des Gußschuppens und setzte diese in Brand. Auch der Ladebaum über der Gußgrube, mit dessen Hilfe der Glockenmantel nach dem Guß gehoben werden sollte, ging in Flammen auf. Bei dem zweiten Guß standen vierhundert Männer bereit, ein solches Feuer zu bekämpfen[18]. Aber warum sollten soviele Menschen benötigt werden, um einen Brand in dem begrenzten Raum einer Gußgrube zu löschen? Wenn man Wasser nur eimerweise auf die glühendheiße Glocke gegoßen hätte, wäre es ohne Wirkung verdampft; man hätte eine große Menge Wasser in kürzester Zeit auf die Glocke gießen müßen, um das Feuer löschen zu können, und die Glocke wäre dabei stark und rasch abekühlt. Sacharow schreibt, daß die vierhundert Männer, die beim zweiten Gußversuch zur Feuerbekämpfung bereit standen, mit Feuerlöschröhren (пожарными трубами) ausgestattet worden waren[19]. Nach der Einführung der Feuerwehrpatrouillen 1639 waren sie mit manuellen Feuerlöschpumpen ausgestattet worden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden Zwei-Zylinder-Kolbenpumpen aus dem Ausland importiert, die mit Schläuchen und eigens dafür gebauten Wasserbehältern versehen waren. Die Reichweite des Wasserstrahls betrug ca. 10 m. Man brauchte fünfzig Männer, um die Feuerlöschpumpe betreiben zu können. Zwei Gruppen von je sechs Männern bedienten abwechselnd den Pumpmechanismus, acht hielten den Schlauch und richteten den Wasserstrahl und dreißig bildeten eine oder zwei Kolonnen, deren Männer das Wasser eimerweise von Mann zu Mann reichten, bis der letzte es in den Behälter der Feuerlöschpumpe kippte[20]. 1633 hatte der Schotte Christopher Galloway eine neuartige Pumpanlage im Inneren des südwestlichen Eckturms des Kremls neben dem Moskauer Fluß installiert, die die Anlage mit Trinkwasser versorgte. Seitdem heißt das Gebäude Водовзводная башня oder Wasserzugturm. Dieser stand jedoch 600 Meter von der Gußgrube entfernt. Sollte sich ein Feuer nochmal in der Gußgrube ausbrechen, wären wegen des Abstands zum Wasserzugturm erheblich mehr als dreißig Männer nötig, um die entsprechende Menge Wasser eimerweise schnell zur Feuerlöschpumpe an der Gußgrube zu tragen. Aber auf dieser Weise wäre es vielleicht doch möglich gewesen, eine größere Menge von Wasser schnell auf die Glocke zu gießen. Der italienische Glockengießer Emanuele Allanconi berichtete jedoch aus eigener Erfahrung, daß es ihm nicht gelang, eine Glocke abzukühlen, indem er sie mit Wasser übergoß und meint, daß, um Risse durch einen Temperaturabsturz der Glockenbronze zu verursachen, die Glocke dabei derart heiß sein müßte, daß sie anfangen würde zu schmelzen. Er wies ferner darauf hin, daß sämtliche Risse der Zar-Kolokol-Glocke in der Schärfe und dem Wolm sind, in den Teilen der Glocke, die wegen ihrer starken Durchmesser am langsamsten abkühlen und wo Risse sich wegen ungleichmäßige oder schnelle Abkühlung nicht bilden. Nach Einschätzung der heutigen Fachmänner, können solche Risse auf Grund eines starken und raschen Abfalls der Temperatur der Glockenbronze nicht entstehen[21]. Und schließlich fragt Inna Kostina, ob, wenn ein schwerer Brand in der Gußgrube loderte, es bei dessen starker Hitze überhaupt möglich gewesen wäre, nah genug an sie heranzukommen, um das Feuer zu löschen. Warum hat man nicht Erde dafür benützt? Vermutlich war der Boden um die Gußgrube nicht gepflastert und man hätte ohne großen Aufwand sie auf das Feuer schaufeln können[22]. Nichts spricht für die über fast drei Jahrhunderte tradierte Geschichte der Beschädigung der Zar-Kolokol-Glocke, im Gegenteil, auch wenn es möglich gewesen wäre, eine große Menge Wasser schnell auf die Glocke zu gießen, wäre sie trotzdem nicht gerissen und wenn überhaupt irgendjemand versucht hätte, unter den unvorgesehenen Umständen ein Feuer in der Gußgrube zu löschen, dann wären es wahrscheinlich nicht die ursprünglich dafür vorgesehenen vierhundert Männer, die bei dem zweiten Gußversuch in aller Ruhe im voraus eingeplant und dafür eingesetzt werden konnten, weil diese jetzt damit beschäftigt gewesen wären, den Großbrand im Kreml zu bekämpfen. Am allerwichtigsten ist jedoch die Tatsache, daß die Glocke keinerlei durch eine Beschädigung durch Feuer hervorgerufene Merkmale aufweist. Nachdem der Engländer Edward Daniel Clarke die Stadt Moskau 1801 besuchte, veröffentlichte er eine Zeichnung der Zar-Kolokol-Glocke in der Gußgrube. Obwohl viele der Einzelheiten davon nicht stimmen – z.B. werden der Glockenschmuck und die Figur der Kaiserin Anna Iwanowa vollständig und tadellos abgebildet – ist das große abgebrochene Fragment auch zu sehen und zwar auf der Seite liegend abseits der Glocke. Dies spricht auch dafür, daß die Glocke nicht wegen des Feuers zerbrach, denn sonst wäre das Stück bei den Löscharbeiten nicht nach außen und weg von der Glocke herausgeschleudert worden sondern nach innen gefallen.

     Und wenn ein plötzlicher Temperaturabsturz der Bronze nicht die Risse verursachte, was ist mit der Glocke denn wirklich geschehen? Warum sind die Figuren der Kaiserin Anna Iwanowa und des Zaren Alexei Mikhailowitsch unvollständig, und wieso wurden die Inschriften nicht zu Ende ziseliert? Wie Iwan und Mikhail Motorin damals gießt Allanconi seine Glocken heute auch nach dem Lehmformverfahren und ist mit der Problematik dieser Gußmethode aus eigener Erfahrung sehr vertraut. Williams behauptet, daß Motorin die Figuren der Kaiserin und des Zaren absichtlich nur grob gestaltete und, daß er vor hatte sie erst nach dem Guß zu vervollständigen und ihre Feinheiten herauszuarbeiten. Allanconi ist hingegen der Meinung, daß die Unvollständigkeit der Figuren sich auf einen Gußfehler zurückführen läßt. Als Mikhail Motorin die Glocke goß, löste sich Lehm von der Innenseite des Mantels und, weil er leichter als Bronze ist, schwamm er nach oben. Wenn der Lehm in mehreren Schichten aufgetragen wurde, kann sich die oberste davon auch leichter lösen. Wenn eine solche Schicht einen Abdruck enthält, dann geht dieser verloren. Wenn die Innenseite des Glockenmantels den Abdruck einer Figur auf der Flanke hat, bleibt losgelöster Lehm meistens am oberen Teil des Abdrucks haften und bedeckt dessen mittleren und unteren Teile, sodaß die beim Gußvorgang hineinfließende Bronze sie nicht abfüllen kann. Allanconi kennt diese Gefahr, weil solche Figuren die Flanken vieler seiner Glocken zieren. Und deshalb blieben die Figuren der Kaiserin Anna Iwanowa und des Zaren Alexei Mikhailowitsch beim Guß der Zar-Kolokol-Glocke unvollständig: der untere Teil der Figur des Zaren fehlt, bei der Kaiserin sind nur der Kopf, der oberste Teil der Brust und die ausgestreckte rechte Hand mit dem Reichsapfel zu sehen. Links und rechts von der Kaiserin steht je eine große dekorative Kartusche mit je einer langen und feierlichen Inschrift. Die Kartusche, die auf der Seite gegenüber von dem großen abgebrochenen Fragment steht, enthält eine vierzehnzeilige Inschrift. Die Buchstaben der obersten drei und die auf der rechten Seite der vierten bis sechsten Zeilen sowie einige der achten Zeile wurden ziseliert und sind erhaben. Die restlichen wurden nicht ziseliert, sind flach und liegen tiefer als die erhabenen. Allanconi meint, daß deren oberen Teile nach dem Guß vom Lehm bedeckt waren, die Arbeiter sie nicht sehen konnten und sie versehentlich abschlugen, als sie sie während des Ziselierens suchten. Die Inschrift der Kartusche, die oberhalb des abgebrochenen Stückes steht, läßt sich zwar gut erkennen, aber die Buchstaben wurden während des Zisilierens der Glocke nicht von der ihr umliegenden Glockenbronze befreit und bilden gemeinsam mit ihr eine flache Ebene. Außerdem wurden mehrere Teile des Glockenschmucks nicht zu Ende ziseliert, z. B. sind die unteren Teile der Figuren der Kaiserin und des Zaren und die Rahmen der Kartuschen unvollständig oder grob geformt. Möglicherweise ist ein Teil dieser Schäden auf schadhafte Stellen der Gußform zurückzuführen, die entstanden, als bei dem ersten Gußversuch 1734 brennenden Balken darauf stürzten. Da Iwan Motorin zwei Jahre gebraucht hatte, um die Gußform fertigzustellen, hatte er und sein Sohn Mikhail nicht die Zeit und die Mittel, eine neue zu bauen und mußten sie stattdessen reparieren. Am 22. September 1735 wurden 4.000 Rubel für die entsprechenden Arbeiten in Rechnung gestellt und eine Woche später erhielten Mikhail Motorin, Gawril Smirnow und Andrei Molyarow den Befehl, die Gußform zu reparieren[23].

     Die schlimmsten Beschädigungen der Glocke sind jedoch die vielen Risse am Schärfe und Wolm, die sich um die gesamte Glocke verteilen und das große elfeinhalb Tonnen schwere Stück, das abbrach. Mischurowski hat sich die Glocke von innen angeschaut und berichtet, daß die Risse durch die Glocke hindurchgehen und auch auf deren Innenseite klar zu sehen sind. Wie wurden sie verursacht und woher kommt das große abgebrochene Fragment? Viktor Piiranen, Professor an der Staatlichen Bergbau-Universität von Sankt Petersburg, führte Experimente durch, um das Abkühlen von Glockenbronze genauer unter die Lupe zu nehmen und beobachtete wie Risse manchmal entstehen, wenn der Vorgang ungleichmäßig abläuft. Auch Allanconi bestätigte, daß dies passieren kann, aber wenn, dann entstehen Risse nur in den dünnwändigen Teilen einer Glocke, nämlich die Schulter und Flanke und geschieht, wenn die Glockenbronze an einer Stelle in die angrenzenden Teile der Glocke fließen, die die Bronze absorbieren. Dies passiert jedoch niemals am Schlagring und Wolm, da diese wegen ihrer dicken Wände immer allmählich und am langsamsten abkühlen. Die Glockengießer Christoph Schmitt von der Gießerei Hermann Schmitt in Brockscheid und Ellen Hüesker von der Petit und Gebrüder Edelbrock Gießerei in Gescher lieferten eine andere Erklärung für die Entstehung von Rissen. Sie berichteten, daß, wenn die Glockenbronze sich nach dem Gußvorgang abkühlt, sie um ca. 1% schrumpft. Der Kern der Gußform muß dabei nachgeben und sich etwas nach innen zusammenziehen können. Herr Schmitt erzählte, daß wenn der Gießer den Kern zu locker baut, kann er zuviel nachgeben, wenn er aber zu fest ist, dann gibt er überhaupt nicht nach. Und wenn der Gießer gebrannte Lehmziegel dafür benutzt, ist die Gefahr eines zu starren Kernes noch größer. Dieser wird am besten aus locker angelegten Lehmziegeln mit kleinen Lücken dazwischen gebaut, damit er beim Abkühlvorgang flexibel und anpassungsfähig bleibt. Wenn er stattdessen derartig fest ist, daß er gar nicht nachgibt, entstehen Spannungen in der Glockenbronze während sie beim Abkühlvorgang zu schrümpfen versucht, und diese können Risse verursachen. Allanconi kennt dieses Problem jedoch weder aus eigener Erfahrung noch aus Berichten anderer italienischen Glockengießer. Er kennt nur eine Ursache für die Entstehung der Risse der Zar-Kolokol-Glocke: sie muß in die Tiefe gestürzt sein. Im Zweiten Weltkrieg brachten die Deutschen die von ihnen beschlagnahmten Glocken zu einem Hüttenwerk und zerschlugen sie, indem sie sie aus einer Höhe von zehn bis zwanzig Metern auf eine härtere Messing- oder Brilonglocke fallenließen. Und wie entstand das elfeinhalb Tonnen schwere Glockenfragment? Nach Olowjanischnikow und Williams brach das Stück ab, als die glühendheiße Glocke mit Wasser übergossen wurde[24]. Nach Sidortschik wären Gußfehler sowohl für die Risse als auch für die Entstehung des Fragments verantwortlich, das sich von der Glocke hätte trennen können, als diese angehoben wurde[25].


     [1] Da Williams den Moskauer Dreifaltigkeitsbrand nach dem julianischen Kalendar anführte, ist anzunehmen, daß alle anderen von ihm angegebenen Daten, die aus russischen Quellen stammen wie auch diejenige von Kostina und Rubzow zitierten sowie das auf einer russischen Website angegebene Datum 30. April 1649 als der Tag an dem Tsar Alexei Michailowitsch eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Stadt Moskau von Feuerwehrpatrouillen anordnete, ebenfalls danach angeführt wurden. Nur die Angabe des Tages, an dem die Zar-Kolokol-Glocke aus der Gußgrube entfernt wurde – 23. Juli 1836 – wurde vermutlich nach dem gregorianischen Kalendar angegeben worden sein, da es aus einer Darstellung stammt, die von dem Franzosen Auguste Ricard de Montferrand auf Französisch verfasst wurde. Siehe Auguste Ricard de Montferrand: Description de la grand Cloche de Moscou, Paris 1840.

    [2] Инна КОСТИНА: Каталог собрания государст-венного историко-культурного музея-заповедника «московский кремль». Колокола XIV-XIX веков (Inna KOSTINA: Katalog der Sammlung des Staatlichen Histo-rischen und Kulturmuseums des "Moskauer Kremls“. Die Glocken des 14. bis 19. Jahrhunderts, Moskau 2015, S. 118.

     [3] Michail Motorin bewies, daß sein Vater Recht hatte, als er glaubte, daß es möglich wäre, eine unvergleichlich große und schöne Glocke zu gießen“ und „Motorins Zar-Kolokol-Glocke ist dennoch ein Meisterwerk. Sie ist die bronzene Apotheose aller großen Geine der am schönsten gestalteten und verzierten aller Glocken...“ Siehe Edward Williams: The Bells of Russia, Princeton 1985, S. 152 bzw. 154.

[4] Vgl. Edward Daniel CLARKE: Travels in Various Countries of Europe, Asia, and Africa. Bd. I: Russia, Tartary, and Turkey, Aberdeen und Ipswich 1848, S. 76, Николай РУБЦОВ: История  литейного производства в ссср (Nikolai RUBZOW: Geschichte der Gießereien in der UdSSR), zweite revidierte und erweiterte Ausgabe, Moskau 1962, S. 113, Николай Захаров: Кремлёвские колокола (Nikolai SACHAROW: Die Glocken des Kremls), 2te revidierte Ausgabe Moskau 1980, S. 49, Инна КОСТИНА:  Царь-колокол и его создатели. Вопросы истории. (Inna KOSTINA: Die Zar-Kolokol-Glocke und ihre Schöpfer. Fragen zu deren Geschichte), Moskau 1982, S. 181, WILLIAMS, S. 154, Сергей ТОСИН: Колокола и звоны в Руссии (Sergei TOSSIN: Glocken und Swons in Rußland), Nowosibirsk 2002, S. 332, Николай Оловянишников: Исторя колоколов и колокололитейное искусство (Nikolai Olowjanischnikow:  Die Geschichte der Glocke und der Kunst des Glockengießens), Moskau 1912, neu revidierte Ausgabe von Anna Bondarenko, Moskau 2010, S. 194, Юури ПУХНАЧЕВ: Загадки звучащего металла. Физика, технология и история колокола (Juri PUCHNATSCHOW: Die Geheimnisse von klingendem Metall. Die Physik, Technologie und Geschichte der Glocke), Moskau 20122, S. 80, Андрей Сидорчик: Молчащий гигант. Кто сломал Царь-когоког? (Andrei Sidortschik: Stummer Riese. Wer brach die Zar-Kolokol-Glocke?), Internetwebsite Аиф Истфак (Aif Istfak) http://www.aif.ru/society/history/molchaschiy_gigant_kto_slomal_car-kolokol 2014 sowie der Artikel Царь-колокол (Die Zar-Kolokol-Glocke), ru.wikipedia.org., Abschnitt Повреждения (Schaden) und Roman LUKIANOV: A Brief  History of Russian Bells,  http://www.russianbells.com/history/history1.html. Der Moskauer Glockengießer MICHAIL GAWRILOW BOGDANOW soll die großen Bruchstücke der 58,1 t schweren Glocke, die KONSTANTIN SLISOW für den Iwan-Weliki-Glockenturm des Kremls 1760 gegossen hatte angeblich dadurch zerkleinert haben, indem er  sie zuerst erhitzte und dann mit kaltem Wasser übergoß, um sie für den Guß der neuen Glocke besser verwenden zu  können, die er 1817 schuf (laut Inschrift wiegt diese Glocke 4000 Pud = 65,44 t. Nach Bogdanow beträgt das Gewicht der fertiggestellten Glocke 3.904 Pud 9 Pfund = 64 t, nach den Berechnungen der russischen Gießern Samgin und Astrachanzew wog sie 3.856 Pud 1 Pfund = 63 t, nach Hieromönch Arseni 55,2 t.,) die er Alla Widenejewa zufolge am 5. April 1818 goß (Siehe Костина: Каталог ((Kostina, Katalog)), S. 144 bzw. 148), nachdem Napoleons Truppen SLIZOWS Glocke stark beschädigt hatten, als sie  während der Besatzung der Stadt im Frühherbst 1812 versucht hatten, den Glockenturm mit Hilfe von Sprengsätzen zu zerstören. Nach Robert Lyall wurde die Glocke heiß, als es auf dem Iwanowskaja Platz neben dem Iwan-Weliki-Glockenturm brannte und die Glocke „zerbrach, als man sie mit kaltem Wasser  übergoß: sie brach in Stücke auseinander, die zu BOGDANOWS  Gießerei transportiert und für den Guß der neuen Glocke verwendet wurden...“ Siehe Robert LYALL: The Character of the Russians and a Detailled History of Moscow, London, 1823, S. 209. Nach Kostina wurde die Glocke in dem Iwan-Weliki-Glockenturm beschädigt während Napoleon Moskau besetzte und nachher davon entfernt, auf dem Erdboden gelegt und zertrümmert und die Fragmente zur Bogdanows Gießerei gebracht, der sie benutzte, um eine neue Glocke zu gießen. Siehe КОСТИНА: Каталог (KOSTINA, Katalog) S. 148. Als Napoleons Truppen die Sprengsätze detonierten, die sie in dem Iwan-Weliki-Glockenturm gelegt hatten, fielen mehrere Trümmerteile in die Gußgrube der Zar-Kolokol-Glocke und begruben sie  vollständig unter ihnen.    

[5] Андреий Глушецкий: Колокольное дело в России. Во второй половине XVIII – начале XX века. Энциклопедия литейщиков. (Andrei Gluschetzki: Glockenhandwerk in Rußland
von der zweiten Hälfte des 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Enzyklopedia der Glockengießer), Moskau 2010, S. 266 und
Вылит сей колокол в царствующем граде москве. История московских колокололитейных заводов XVIII – начала XX в., (Andrei Gluschezki: Diese Glocke wurde in der Regierungsstadt Moskau gegossen. Die Geschichte der Moskauer Glockengießereien vom achtzehnten bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts), Moskau 2019, S. 31
.

[6] Сидорчик (Sidortschik), ebenda.

[7] Инна Костина: Каталог собрания государственного историко-культурного музея-заповедника «московский кремль». Колокола XIV-XIX веков (Inna Kostina: Katalog der Sammlung des Staatlichen Historischen und Kulturmuseums des "Moskauer Kremls“. Bd. Die Glocken des 14. bis 19. Jahrhunderts, Moskau 2015, S. 125.

[8] Сидорчик (Sidortschik), ebenda.

[9] Vgl. Artikel Царь-колокол (Die Zar-Kolokol-Glocke), ru.wikipedia.org., Abschnitt Повреждения (Schaden).

   [10] Williams, S. 154. Vgl. auch John Ross Browne: The Land of Thor, New York 18702, S. 144. Nach Jonas Hanway „lag diese Glocke in einer Grube,  über der sie früher hing; als der Balken, der sie trug  während eines Großbrandes nachgab, hinterließ ihr Sturz eine große Lücke in der Glocke.“ Siehe Jonas Hanway: An Historical Account...of Travels from London through Russia, Bd. 1, London, 1753, S. 93. William Coxe, der die Glocke untersuchte und auch deren Größe ausmaß als er die Stadt Moskau 1778 besuchte schrieb „Der Balken, an dem diese riesige Maschine festgemacht worden war, brannte durch einen Zufall, die Glocke fiel herab und hinterließ eine Öffnung derart groß, daß zwei Menschen nebeneinander durch sie hindurchschreiten können, ohne sich dabei bücken zu müßen.“ Siehe William COXE: Travels into Poland, Russia, Sweden, and Denmark, Interspersed with Historical Relations and Political Inquiries. Book III. Travels into Russia, Dublin 1784, S. 351-352. Über die Zar-Kolokol-Glocke berichtete  Robert Lyall “Wenn sie auf immer in dem Loch geblieben wäre, wo sie gegossen worden war, wäre es schwer zu verstehen, wie sie durch ein Feuer hätte beschädigt werden können, da sie dort mitten in einem feuerfesten Umfeld liegt...Wenn jemand mich fragen würde, wie und wo die Glocke gehangen hatte, würde ich erwidern, daß, nach allen bisher gefundenen Berichten darüber zu urteilen, sie über der Stelle, an dem sie gegossen worden war, hing und zwar nicht weit über dem Erdboden; daß sie an riesigen Balken und Sparren festgemacht worden war und von einer Holzkonstruktion überdacht wurde, die Feuer fing, wodurch die Glocke heiß wurde und wahrscheinlich riß, als sie mit Wasser übergossen wurde während man versuchte, den Brand zu löschen.“ Siehe Lyall, pp. 207. Lyall weist dabei auf vier russische Texte und eine deutschsprachige Schrift als Informationsquellen. John Murray notierte folgendes über die Zar-Kolokol-Glocke: „es wird erzählt, daß der Turm, worin sie ursprünglich hing, 1737 brannte und ihr Absturz führte dazu, daß die enorme Masse sich tief in der Erde grub und ein großes Stück on ihr abbrach.“ Siehe John Murray: Hand-book for Northern Europe; including Denmark, Norway, Sweden Finland, and Russia, neue Ausgabe, London 1849, S. 551. Charles Piazzi Smyth, der die Glocke sich anschaute als er Moskau 1859 besuchte, schrieb darüber „...es wurde nirgendswo schriftlich festgehalten, ob sie jemals wirklich läutete; nur daß im Jahre 1737 ein weiterer Brand ihre Behausung zerstörte, und daß ein großes Stück aus dem unteren Teil abbrach, entweder weil die Glocke dabei abstürzte oder weil Wasser gleichzeitig auf das brennende Glockengerüst und die Glocke selber gegossen wurde.“ Siehe Smyth, ebenda. Iwan Snegirew nennt beide Versionen der Geschehnisse als mögliche Ursachen für die Beschädigung der Glocke, daß sowohl das Gerüst um sie herum brannte oder der Tragebalken, an dem sie über der Gußgrube hing, Feuer fing und sie in die Grube fallen ließ. Vgl. Иван Снегирев: Московский Царь´-колокол (Iwan Snegirew: Die Moskauer Zarenglocke) in: Русская достопамиятности 3 (Russische Sightseeing 3) 1880, S. 1-28, hier S. 6. Siehe auch den Artikel Царь-колокол (Die Zar-Kolokol-Glocke), ru.wikipedia.org., Abschnitt Повреждения (Schaden) und den Auszug aus Николай Захаров: Кремлёвские колокола (Nikolai Sacharow: Die Glocken des Kremls), Moskau 1969, www.libfox.ru sowie Костина: Каталог (Kostina: Katalog), ebenda.

[11] Vgl. Robert Bremner: Excursions in the Interior of Russia; Including Sketches of the Character and Policy of the Emperor Nicholas, Scenes in St. Petersburgh, &c., &c, Bd. 2, London 18402, S. 49-50.

[12] Williams, S. 154. Williams beruft sich dabei auf Густав Богуславский: Царь'-колокол (Gustaw Boguslawski: Die Zar' Kolokol-Glocke), Moskau 1958, S. 38-39. Vgl. auch Захаров (Sacharow), 2te revidierte Ausgabe 1980, S. 49.

[13] Williams berichtet, daß es die Handwerker hart arbeiten müßten, um die Schärfe der Glocke von dem darunterliegenden Eisengitter zu trennen, als Montferrand sie 1836 aus der Gußgrube hob. Siehe Williams, S. 161. Darüber schrieb William Spottiswoode „Es ist mir klar, daß die Glocke nie läutete oder jemals irgendwo hing...Dies scheint mir offensichtlich, angesichts der Tatsache, daß sie noch auf dem Eisengitter stand, auf dem der Kern als erster Teil der Gußform gebaut wurde bevor der rest fertiggestellt wurde, und daß die Glocke noch in derselben Grube lag, wo sie gegossen worden war.“ Siehe William Spottiswoode: A Tarantasse Journey through Eastern Russia in the Autumn of 1856, London, 1857, S. 248-249. Kostina berichtet, daß bisher keine Dokumente im Kremlarchiv gefunden wurden, die belegen, daß die Zar-Kolokol-Glocke in einem Gerüst über der Gußgrube hing, und daß das Eisengitter sogar an der Schärfe der Glocke klebte und zuerst zusammen mit ihr nach oben gezogen wurde, als Montferrand die Glocke anhob und daß dies gegen die Behauptung spräche, daß die Glocke abgestürzt wäre. Siehe Костина: Каталог (Kostina: Katalog), S. 125. Auch Sacharow berichtet darüber und der Autor des russischsprachigen Wikipedia Artikels über die Zar-Kolokol-Glocke schreibt, daß Sacharow wie die meisten anderen russischen Campanologen daran zweifelt, daß die Glocke abstürzte, weil sie sonst nicht danach exakt dieselbe Stellung auf dem Eisengitter hätte einnehmen können, wie sie vor einem Sturz hatte. Vgl. Artikel Царь-колокол (Die Zar-Kolokol-Glocke), ru.wikipedia.org., ebenda und Захаров (Sacharow), ebenda. Es ist dem Autor jedoch nicht klar, woher diese Campanologen wissen, wie die Glocke in der Gußgrube lag. Die Gußgrube war zehn Meter breit und der Durchmesser der Glocke beträgt 6,9 Meter. Wenn der Glockengießer Allanconi Recht hat, wenn er behauptet, daß das Eisengitter unterhalb der Gußform gebaut wurde, damit die Glocke sich nicht in die darunterliegende Erde hineindrückt, dann müßte es mindestens so breit wie die Gußform wenn nicht sogar noch breiter gewesen sein. Und das  würde bedeuten, daß wenn sie in der Mitte der  Gußgrube gebaut worden wäre, der Abstand zwischen dem Rande des Eisengitters und der Wand der  Gußgrube höchstens 1,7 Meter groß gewesen wäre, wenn nicht sogar weniger. In der Zeichnung von der Glocke in der Gußgrube die RICARD DE MONTFERRAND anfertigte als er sich darauf vorbereitete, sie daraus heben zu lassen, nimmt sie fast den ganzen Boden davon in Anspruch. Siehe WILLIAMS, S. 161 und RUBZOW, S. 114. Das hätte zur Folge, daß wenn die Glocke hoch gehoben worden und anschließend  heruntergefallen wäre, sie auf das Eisengitter hätte fallen müßen. Und auch wenn sie danach nicht auf genau der gleichen Stelle wie vorher stand, der größte Teil davon würde trotzdem wieder auf dem Eisengitter gestanden und daran geklebt haben we-gen der Wucht des Aufpralls und der Korossion des Eisengitters durch das Wasser, das sich später auf dem Boden der Gußgrube ansammelte. Williams berichtet, daß, als die Handwerker die Schärfe der Glocke von einer dicken Schicht Erde befreiten, die sich mit der Zeit um sie herum gebildet hatte, damit sie 1836 aus der Gußgrube gehoben werden konnte, sie die Reste des Eisengitters aufdeckten, was darauf hinweist, daß es schon verfallen war. Unter diesen Umständen fragt man sich, wie irgendjemand behaupten könnte, daß, als die Glocke endlich aus der Grube gehoben wurde, sie noch auf genau der gleichen Stelle des Eisengitters war, wo sie 101 Jahre vorher gestanden hatte und er diese Aussage als den Beweis anführen könnte, daß die Glocke niemals angehoben worden oder angestürzt wäre. Daher ist die Tatsache, daß das Eisengiteer an der Schärfe der Glocke klebte, als sie endlich hochgehoben wurde, bezüglich der Frage, ob sie irgendwann herunterfiel oder nicht herunterfiel, irrelevant. Im Gegensatz zu Williams meint Sacharow, daß Motorin sogar die Glocke nicht einmal anhob und die Angüsse auf der Schärfe der Glocke auch nicht entfernte. Vgl. Захаров (Sacharow), ebenda.            

[14] Костина: Каталог (Kostina, Katalog): ebenda.

[15] Als Dr. Bund die von mir gemachten Detaillaufnahmen der Glocke beim Deutschen Glockenkolloquium am 7. Oktober 2018 anschaute, war er ebenfalls dieser Meinung.

[16] Siehe Костина: Каталог (Kostina, Katalog): ebenda.

[17] МЧС России (Emercom Rußland), Artikel История пожарной охраны Москвы (Geschichte der Moskauer Feuerwehr), https://moscow.mchs.ru/document/661234.

[18] Оловянишников (Olowjanischnikow), ebenda.

[19] Захаров (Sacharow), S. 6.

[20] Vgl. МЧС России (Emercom Rußland), Artikel История развития пожарной техники в России в XVII-XIX веках (Die Geschichte der Entwicklung der Feuerwehrgeräte in Rußland im XVII-XIX Jahrhundert), http://www.mchs.gov.ru/dop/info/smi/news/Novosti_glavnih_upravlenij/item/716355.

[21] Siehe Олга Азарова: Царь-колокол в Московском Кремле (Olga Asarowa: Die Zar-Kolokol-Glocke im Moskauer Kreml), www.zvon.ru.

[22] Als die von Alexander Grigorjew gegossene Große-Mariä-Himmelfahrts-Glocke am 2. Dezember 1673 in einen neuen Turm neben dem Iwan-Weliki-Glockenturm im Moskauer Kreml hochgehievt wurde, stürzte sie kopfüber. Als sie auf dem Boden aufprallte, blieb das obere Drittel der Glocke in der Erde stecken. Das bedeutet, daß zu dieser Zeit der Boden um den Glockenturm nicht bepflastert war und es ist anzunehmen, daß dies 1737 ebenfalls der Fall war, sodaß es durchaus möglich gewesen wäre, ein Feuer in der Gußgrube zu löschen, indem man die Erde um sie herum auf die Glocke schaufelte. Während seines Aufenthalts in Moskau im Jahre 1800 untersuchte Edward Daniel Clarke die Zar-Kolokol-Glocke in der Gußgrube und ihm fiel dabei auf, daß deren unterer Teil gänzlich in der Erde begraben war. Vgl. CLARKE, ebenda.

[23] Siehe Инна Костина: К истории создания «Царь-колокола» (Новые архивные материалы) (Inna Kostina: Zur Geschichte der Entstehung der Zar-Kolokol-Glocke. Neue Dokumente aus dem Archiv) in: Колокола. История и современность 1990 (Glocken in Geschichte und Gegenwart 1990), Hg. von Б. Раушенбах (B. Rauschenbach), Moskau 1993, S. 122.

[24] Siehe Fußnote 2.

[25] Сидорчик (Sidortschik), ebenda.

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