Festtagsgeläute für den heiligen Fürsten Alexander Newski:

Die ersten beiden Wettbewerbe für russische Glöckner 1992 und 1999

Dokumentation und Reisebericht: In memoriam Juri Puchnatschow                 


Von Jeffrey Bossin

 

Mitte der achtziger Jahre waren in Rußland die seit langem verstummten Klänge einer fast gänzlich verlorengegangen Musik wieder zu hören. Fernab vom Sowjetalltag, tief in den Wäldern des Hohen Nordens wurden wieder Glocken geläutet. In einer alten historischen Holzfestung regte sich ein Teil der von den Kommunisten jahrzehntelang unterdrückten altrussischen Kultur zum neuen Leben. Darin hatte das Glockengeläute eine zentrale Rolle gespielt, nicht nur in der Kirche sondern auch in der Kunstmusik[1]. Die Erneuerung der russischen Läutekunst vollzog sich in dieser Zeit auch an mehreren anderen Orten des Landes und gipfelte in der Veranstaltung der ersten beiden Wettbewerbe für russische Glöckner. Diese fanden 1992 und 1999 in Jaroslawl statt, einer Stadt an der Wolga rund 250 Kilometer nordöstlich von Moskau[2]. Die Stadt war der ehemalige Sitz von einer der besten russischen Glockengießereien, der Firma P. I. Olowanischnikow und Söhne, die von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Glocken nach allen Teilen des Landes lieferte, und war deshalb ein passender Ort für die Austragung der beiden Wettbewerbe. Diese dienten als ein deutliches Zeichen für die Wiederbelebung der russischen Läutetradition, die infolge der Verstaatlichung der Kirchen und Klöster nach dem Ersten Weltkrieg und der Zerstörung zahlreicher Glocken während der Stalin-Zeit beinah vollständig erloschen war. Einst besaß Jaroslawl zahlreiche Geläute, die zu Weihnachten und Ostern alle gleichzeitig erklangen. Aber während der Revolution hatten sich die Weißgardisten in den Glockentürmen der Stadt verschanzt und von dort aus mit Maschinengewehren auf die Rotgardisten geschossen. Nach ihrem Sieg ließen die Bolschewiki bis 1930 rund die Hälfte der Türme abreißen und fast alle Geläute zerstören. Der Guß von neuen Glocken wurde eingestellt und die Gießereien wurden geschlossen. Außerdem waren Glocken zu einer wichtigen, leicht verfügbaren Quelle von Metall geworden. Es wurde an Länder verkauft, in denen es infolge des Ersten Weltkriegs an Zinn und Kupfer mangelte. Dorfbewohner veräußerten ihre Glocken und investierten das Geld in ihren Bauernhöfen und Schulen. Glockenmetall wurde auch für die Herstellung von landwirtschaftlichen Geräten gebraucht. Unter Stalin wurden zahlreiche Glocken eingeschmolzen, um Metall für den Bau von Traktoren und anderen Industriegütern zu gewinnen. Zahlreiche weitere Glocken fielen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Übrig blieb nur eine Handvoll der bedeutendsten Läuteanlagen wie das große Geläut von Rostow Weliki.

Nach der Oktoberrevolution hatte es zwar Ansätze zu einer neuen profanen Kultur des Läutens gegeben – Konstantin Saradschew hatte Glockenkonzerte in Moskau gegeben und Pläne für den Bau eines staatlichen Konzertglockenturms geschmiedet. Aber die Verfolgung der russisch-orthodoxen Kirche, die im Jahrzehnt nach

der russischen Revolution die willkürliche Ermordung von mindestens zehntausend Priestern, Mönchen, Nonnen, Bischöfen und Gemeindemitgliedern zur Folge hatte, wurde 1929 durch Stalins Dekret Über die religiösen Vereinigungen zu einer flächendeckenden systematischen Staatspolitik, die auch der Glockenkunst den Todesstoß versetzte. Zwischen 1930 und 1943 war das Glockenläuten in Moskau und dessen Umgebung gar verboten. Als Folge dieser Ereignisse gingen die alten mündlich überlieferten Läutetraditionen weitgehend verloren. Es gab nur noch einige wenige Glöckner, die ihre Kunst heimlich und jeder für sich alleine pflegten sowie eine kleine Anzahl von Interessenten, die sich meistens fern der Zentren der russischen Kultur mit der Kampanologie beschäftigten und über das ganze Land verstreut waren. 1974 veröffentlichte der Mathematiker, Informatiker und Kampanologe Juri Puchnatschow sein Buch Die Geheimnisse des klingenden Metalls und läutete damit die Wiedergeburt der russischen Glockenkunst ein. Viele Glöckner, Kampanologen und Glockenliebhaber aus allen Teilen Rußlands nahmen Kontakt zu ihm auf und wagten es infolge des politischen Tauwetters der achtziger Jahre unter Michail Gorbatschow die einst verbotene Kunst des Glöckenläutens wieder öffentlich auszüben. Bereits 1985 konnte Herr Puchnatschow das Buch Glocken. Geschichte und Gegenwart mit 24 Beiträgen von verschiedenen russischen Glöcknern und Kampanologen herausgeben[3]. 1989 versammelten sie sich zum einem großen Glockenfestival in Rostow Weliki, wo sie unter Herr Puchnatschows Führung als erster Präsident die Assoziation der Glockenkünste in Rußland gründeten. Anfang 1990 läuteten die Glocken der Sankt-Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau, gespielt von Iwan Danilow aus Archangelsk, das neue Jahr ein[4]. Mehrere Schallplatten mit Aufnahmen von verschiedenen russischen Glockengeläuten erschienen auf dem Markt, Ausstellungen mit dem Titel Kleinere russische Glocken fand in Waldaj und Ostaschkow statt, Glocken wurden in einer neuen Werkstatt namens Wera in Woronesch wieder gegossen und Konzerte in Archangelsk, Irkutsk, Leningrad, Rostow Weliki und Susdal veranstaltet.

Eine der letzten Briefmarken, die die UdSSR 1991 herausgab, ist der Assoziation der Glockenkünste gewidmet und zeigt eine große Glocke und vier der wichtigsten Glockentürme Rußlands. Schließlich wurde 1992 das Osterfest der russisch-orthodoxen Kirche zum ersten Mal seit der russischen Revolution von den Glocken im Moskauer Kreml eingeläutet.

Zwei Monate später folgte der erste Wettbewerb für russische Glöckner, der als Teil des alljährlichen Festivals Verklärung für Chor- und Glockenmusik in Jaroslawl stattfand und u. a. von der Generaldirektorin Jelena Ankudinowa und ihrer Kollegin, der dort ansässigen Glöcknerin und künstlerische Leiterin Natalja Karowskaja, organisiert wurde. Dank einer Empfehlung von Herr Puchnatschow beriefen sie mich in die Jury. Herrn Puchnatschow hatte ich 1988 in Klaipeda in der damaligen litauischen SSR kennengelernt, als ich im Rahmen des ersten Carillonfestivals jener Stadt konzertierte. Herr Puchnatschow sprach gut Deutsch und wurde mein ständiger Begleiter. Auf dieser Weise lernte ich diesen intelligenten, humorvollen und gebildeten Mann gut kennen, und wir wurden rasch gute Freunde. Herr Puchnatschow sorgte dafür, daß ich im folgenden Jahr an dem großen Glockenfestival in Rostow Welikij teilnehmen durfte und als Ehrenmitglied in die dort gegründete Assoziation der Glockenkünste in Rußland aufgenommen wurde. 1991 wohnte ich einem weiteren Festival in Archangelsk bei. Aufgrund der Grundkenntnisse der russischen Glockenmusik, die ich auf diesen Reisen erworben hatte und meiner eigenen Erfahrungen mit Glocken und Carillonmusik als Berliner Carillonneur hielt mich Herr Puchnatschow für einen wertvollen Mitglied der Jury mit einem eigenen Bild  von der russischen Läutekunst. Da ich nicht als Tourist, Geschäftsmann oder Diplomat sondern als privater Künstler reiste und an Veranstaltungen teilnahm, die meine russischen Kollegen für sich selber organisierten, wurde ich für einige Tage so etwas wie ein Adoptivrusse. Ich fuhr mit ihnen durch das Land, wohnte mit ihnen in ihren Hotels, nahm an ihren Aktivitäten teil, sprach mit ihnen über ihren Alltag, ihre Sorgen und ihre politischen Ansichten und bei entsprechenden Anlässen feierte ich auch mit ihnen mit.

Der erste Wettbewerb wurde zwischen 17. und 19. Juni 1992 im Erlöser-Kloster (Spasski-Monastyr), ausgetragen. Am 15. Juni 1992 flog ich nach Moskau. Herr Puchnatschows hübsche Frau Natalja traf mich am Flughafen, und ein Fahrer brachte uns mit dem Auto zur Herr Puchnatschows Wohnung. Am nächsten Tag brachen wir nach Jaroslawl auf und holten in Moskau einen Kollegen und weiteren Jurymitglied ab, der uns begleitete. „Das ist Wladimir Iwanowitsch Maschkow, der älteste Glöckner Moskaus. Er spielt die Glocken 

des Neujungfrauenklosters (Nowodjewitschi Monastyr[5]) sagte Herr Puchnatschow. „Herr Maschkow wurde 1907 geboren“ fügte er hinzu. „Ja, damals als wir noch den Zaren hatten, da ging es uns gut!“ sagte Herr Maschkow. Ich mußte sofort lachen. Ich hatte nie im Leben gedacht, dieses alte Klischee aus dem Munde eines Mannes zu hören, der seine Kindheit tatsächlich im Zarenreich verbracht und den Zaren als Teil des Alltags erlebt hatte und sogar vielleicht einmal aus der Ferne gesehen haben könnte. Herr Maschkow war Augenzeuge der ganzen Geschichte Rußlands vom Kaiserreich bis zur Auflösung der Sowjetunion und Entstehung des neuen russischen Staates, wo sich westliche Einflüsse überall rasch ausbreiteten. Am Jaroslawler Bahnhof, wo wir in den Zug einstiegen, gab es schon einen Pepsicola-Automaten, und in dem schmutzigen Abteil, wo wir unsere reservierten Plätze einnahmen, saß bereits ein junger Mann im Trainingsanzug mit der Aufschrift Benetton.     Nachdem wir zur Ruhe gekommen waren, bat ich Herrn Maschkow mir etwas aus seinem Leben zu erzählen. „Bis zur Revolution waren wir gut versorgt, wir hatten alles, was wir brauchten. Als die Revolution ausbrach, gab es eine Woche lang Straßenkämpfe in Moskau. Bis 1922 herrschte eine hohe Inflation, vergleichbar mit der heutigen – noch vor Weihnachten kostete ein Brot zwischen 15 und 50 Kopecken, jetzt kostet es 15 Rubel und für eine Wurst muß man jetzt schon 500 Rubel bezahlen. Dabei verdient ein Angestellter nur rund 2.000 Rubel im Monat, aber die Lebenshaltungskosten sind inzwischen auf das Doppelte gestiegen! In den zwanziger Jahren arbeitete mein Vater in einer privaten Bank. Es war eine schwere Zeit, und sie wurde bis 1929 noch schlimmer. Aber dann gab es die ersten Kooperativ-Läden. Man ging dorthin, ließ sich Lebensmittel und Haushaltswaren in ein kleines rotes Büchlein eintragen und bekam die Ware ausgehändigt. Auf dieser Weise verbesserte sich die Versorgung bis 1935, schließlich bekam man fast alles, was man zum Leben brauchte. Dann verschlechterte sich die Lage wieder, Krieg lag in der Luft.“ Ich fragte ihn nach der Stalin-Zeit und was er von dem Terror, den Schauprozessen und der Hungersnot mitbekommen hatte. „Man behielt die Zunge hinter den Zähnen“ war seine Antwort. Dann schaute Herr Maschkow aus dem Zugfenster. „Sehen Sie mal, früher gab es hier Nadelbäume, jetzt haben sie Laubbäume und Hazelnußsträucher gepflanzt. Sehen Sie wie schön die kleinen Datschas sind!“ Und ich dachte mir, daß Herr Maschkow seine Lektion mit der Zunge gut gelernt hatte und wußte, daß morgen alles wieder anders werden kann und irgendjemand vielleicht wissen wolle, was er dem Amerikaner gesagt hätte oder säße gar jetzt in Hörweite und notierte sich alles. Immerhin war nur etwas mehr als ein halbes Jahr seit der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende des Kommunismus vergangen. Die ehmaligen Machthaber waren



    [1] Vgl. Michael Krestan: Das russische Glockengeläute und sein Einfluß auf die Kunstmusik Rußlands im 19. Und 20. Jahrhundert (= Diskordanzen. Studien zur neueren Musikgeschichte Bd. 9), hg. von Werner Keil, Hildesheim, Zürich, New York 2001.

[2] Die Wiedergabe von russischen Worten und Namen ist problematisch. Je nach Verwendungszweck haben sich mindestens vier unterschiedliche russisch-deutsche Transliterationssysteme entwickelt. Am weitesten verbreitet und am einfachsten ist die an der möglichst korrekten Wiedergabe der russischen Ausprache unter Verzicht auf zusätzliche, das Erscheinungsbild bekannter Worte und Namen verfremdender diakritischer Zeichen orientierte Duden-Transkription, die hier angewandt wird. Einzige Ausnahme: der kyrillische Buchstabe ж (wie j in frz. Journal) wird nicht nach Duden als 'sch'  (dies führt zu einer falschen Aussprache und Verwechslung mit dem Buchstaben ш), sondern nach deutscher Universitätskonvention als 'sh' ('Shukow') wiedergegeben. Da die Angaben zu russisch-sprachigen Literatur in den Fußnoten auf Russisch in kyrillischer Schrift erfolgen, wird auf eine Transliteration de littera da litteram nach DIN 1460 verzichtet. Der Text der Literaturangaben wird ins Deutsche übersetzt. Personen- und Ortsnamen werden in Deutschland üblichen Schreibung wiedergegeben.

    [3] Колокола история и современнось (Kolokola istorija i sowremennost” = Glocken. Geschichte und Gegenwart), hg. von Юрий Пухначев (Juri Puchnatschow), Moskau 1985. Ein zweiter Band mit demselben Titel (und der hinzugefügten Jahreszahl 1990), Herausgeber und Erscheinungsort wurde 1993 veröffentlicht.

[4] Herrn Danilow lernte ich 1988 auf eine Carillonfestival in Klaipeda. Litauische SSR kennen. Der große Glöckner aus Archangelsk läutete gerne mit nacktem Oberkörper bei minus zwanzig Grad. Die heftige Arbeit hielt ihn nicht nur warm, sie brachte ihn sogar ins Schwitzen, und er stärkte sich dabei hin und wieder mit einem Schluck Wodka.

    [5] Das Neujungfrauenkloster hat ein Geläut mit fünfzehn Glocken. Die drei größten wiegen jeweils 9, 3,5 und 2 Tonnen. Angaben von Wladimir Maschkow.


© Jeffrey Bossin